Das Ende der „Waffengleichheit“ vor Gericht bei Bußgeldverfahren?

Verfassungsrechtliche Bedenken bei Messgerät Poliscan mit neuer Softwarefunktion

Der Gerätehersteller Victronic hat das Messgerät Poliscan FM1 mit einer neuen Softwarefunktion ausgestattet. Der Unterschied zu der Vorgängerversion ist, dass die im Falldatensatz der Messung enthaltenen Hilfsgrößen, die sog. XML Dateien, Position positionVeryFirstMeasurement, positionFirstMeasurement, positionLastMeasurement, positionVeryLastMeasurement teilweise überschrieben werden. Die genannten Positionsdaten, sind Werte, die aus den Rohmessdaten[1] berechnet wurden. Bislang konnte man auf diese Weise bestimmen ob die Messung plausibel ist oder nicht.

Warum ist das ein Nachteil?

Bei einem anerkannten Messverfahren, wie dem vorliegendem, kommt eine Überprüfung durch Sachverständige nur dann in Betracht, wenn konkrete Anhaltspunkte für die Unzuverlässigkeit der Messung vorgetragen werden. Diese konkreten Anhaltspunkte für eine Fehlmessung können Betroffene jedoch nur dann vortragen, wenn ihnen zuvor die Möglichkeit eingeräumt wird, ggf. mithilfe eines privat eingeschalteten Sachverständigen die sog. Rohmessdaten zu untersuchen. Diese Rohmessdaten fallen bei jeder Messung an und sind grundsätzlich auch speicherungsfähig. Anhand der in der XML-Datei hinterlegten Messdaten kann die Geschwindigkeitsmessung auf einfache Weise und ohne Sachverständigengutachten überprüft werden.

Die aus dem Falldatensatz der Messgerätesoftware 4.4.9 exportierbaren XML-Datei geben aber bei den Informationen positionVeryFirstMeasurement, positionFirstMeasurement, positionLastMeasurement, positionVeryLastMeasurement immer die gleiche Messreihenstartzeit an. Die einzelnen Zeitwerte werden faktisch überschrieben. Daher kann kein „alternativer Geschwindigkeitswert“ durch die sonst übliche 2-PunktBetrachtung von zwei Position berechnen werden, da die genaue Zeitangabe fehlt.

Dementsprechend können Betroffene anhand der Messdaten keine Weg-ZeitBerechnung mehr vornehmen und so die geforderten „konkreten Anhaltspunkte“ für eine Fehlmessung darlegen.

Wie ist das rechtlich einzuordnen?

Die Herausgabe der offensichtlich überschriebenen Messdaten ist nach meiner Auffassung mit einer verweigerten Herausgabe gleichzusetzen.

Das Bundesverfassungsgerichts entschied am 12.11.2020 (2 BvR 1616/18), dass aus dem Grundsatz auf ein faires Verfahren das Recht folgt, dass der Betroffene das Recht hat von solchen Inhalten Kenntnis zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden.

Wenn der Betroffene Zugang zu Informationen begehrt, die sich außerhalb der Gerichtsakte befinden, um sich Gewissheit über seiner Entlastung dienende Tatsachen zu verschaffen, ist ihm dieser Zugang grundsätzlich zu gewähren. Dieser Anspruch besteht unabhängig von der Frage, ob bereits konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder vorgetragen sind.

Zusammenfassung:

Mit der neuen Softwarefunktion können Betroffene anhand der zur Verfügung gestellten Messdaten keine Weg-ZeitBerechnung mehr vornehmen und so die geforderten „konkreten Anhaltspunkte“ für eine Fehlmessung darlegen. Das Vorenthalten der unverfälschten Messdaten führt dazu, dass die Messungen nicht/ oder nur wenig angreifbar sind, weil erst gar keine Unregelmäßigkeiten angegeben werden können. Für die Verteidigung bedeutet das, das Beweisanträge nicht konkretisiert werden können und deshalb  zurückgewiesen werden.

Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden und den Betroffenen. Dieses Recht wurde aber durch die von der eingesetzten Software vorgenommene Überschreibung der Messdaten genommen.

Nun bleibt noch abzuwarten, wie sich das Bundesverfassungsgericht zu der konkreten Frage bei dem Messgerät Poliscan positionieren wird.


[1] Rohmessdaten= Daten, die die Hardwaresensoren des Messgeräts bei der physischen Detektion eines Ereignisses generieren.